Kirchturmbrand von 1855

Ein Ereignis und seine Überlieferung
von Horst-Ulrich Osmann © 2002

„Un wenn et noch seßmol affbrennt, ech jonn nit mie eropp!“ soll sich der Dachdecker Lutz in urwüchsigem Erkroder Platt geäußert haben, nachdem er die brennende Kirchturmspitze der Erkrather katholischen Pfarrkirche abgesägt hatte und ihm die gebotene Entlohnung dafür zu gering erschien.


In Erkrath – und sicherlich auch andernorts  - ist das, was so aus der Vergangenheit überliefert, weiter erzählt und mitunter auch aufgeschrieben wurde, nicht unbedingt mit dem wirklich Geschehenen übereinstimmend. Da lohnt es sich allemal, so anekdotenhafte „Erzählchen“ wie dieses auf seinen Wahrheitsgehalt abzuklopfen.


Dass in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Kirchturmspitze gebrannt hat, ist nicht nur mündlich, sondern in Abwandlungen auch schriftlich überliefert. Doch was war wirklich geschehen? Über Ursache, Auswirkung, Abhilfe und Wiederaufbau gab es unterschiedliche Aussagen. Grund genug, die Wißbegier und auch Neugier des Autors zu wecken.


Zeitungsbericht „nach 75 Jahren“

Am 23.Juni 1929 berichten die „Düsseldorfer Nachrichten“ in ihrer Sonntagsbeilage „Rheinisches Land“ über das besagte Ereignis, in der Annahme, das es vor 75 Jahren geschehen sei:


„Wie der Erkrather Kirchturm niedriger wurde - Eine Erinnerung an den Turmbrand vor 75 Jahren

 

Es war am 27. Juni 1854, am Sonntag von Peter und Paul, da brach im Kirchturm ein Brand aus. Der Stolz des Dorfes, der schön geschweifte, zwiebelförmige Helm des Johanniskirchturms stand in Flammen, der um 1785 durch den Erkrather Zimmermeister Lowen nach dem Muster des Ratinger Kirchturms erbaut worden war. Man rief nach dem Dachdecker Lutz aus Unterbach, der mit dem Turm am besten umzugehen wußte. Aber der Lutz war gleich nach dem Gottesdienst zur Ratinger Kirmes gezogen und mußte erst durch einen reitenden Boten zurückgeholt werden. Er war jedoch trotz der Kirmes noch so sicher auf den Beinen, daß er auf den Turm hinaufklettern und den brennenden Helm absägen konnte. Den klingenden Lohn für seine mutige Tat fand Lutz indes recht gering. Die Kosten für den neuen Turmhelm machten der katholischen Pfarrgemeinde Erkrath überhaupt arges Kopfzerbrechen, und so kam es, daß die Turmspitze ein gutes Stück niedriger gebaut wurde, als sie früher gewesen war.“ 1)

 

Pfarrkirche St. Johannes der Täufer. Bild: Petra Büchel
Pfarrkirche St. Johannes der Täufer. Bild: Petra Büchel

Bürgermeistereiblatt von 1855

Auf der Suche nach zeitgenössischen Quellen fanden sich erste Nachweise zum Kirchturmsbrand in den Erkrather Gemeinderatsprotokollen des Jahres 1855. Zusätzlich waren zur Wahrheitsfindung besonders aufschlussreich zwei seinerzeitige örtliche Zeitungsartikel im „Bürgermeistereiblatt für den Landkreis Düsseldorf“. Da heißt es hochaktuell: „Erkrath, den 18. Juni 1855 (Montag; Anm.d.Verf.). Gestern Nachmittag um 6 Uhr schlug der Blitz in den Thurm der hiesigen katholischen Kirche und obwohl der starke Schlag die Bewohner des Dorfes allgemein in Schrecken versetzte, glaubten dieselben doch bald nachher die Gefahr vorüber, da nicht augenblicklich eine Entzündung erfolgte. Nach einiger Zeit stieg indes Rauch auf und bald nachher zeigte sich unmittelbar unter dem Kreuz, in der höchsten Spitze des Thurmes, die Flamme. Indeß sie langsam fortbrannte, hatten die Ortsbewohner Zeit, den Thurm zu besteigen und kundige Leute in die Spitze hinauf zu senden. Ungefähr fünf Fuß (1 Fuß rhein.: 0,31385 Meter, Anm.d.Verf.) 2), von der Spitze waren vom Feuer verzehrt, als es gelang, die Sparren abzuschneiden und so dem Brande Einhalt zu thun“. 3)

Diese erste kurze, aber zeitnahe Schilderung und die Gemeinderatsprotokolle machten deutlich, dass die „Düsseldorfer Nachrichten“ bereits nach einem dreiviertel Jahrhundert nicht nur Tag und Jahr, sondern auch anderer Details falsch übernommen und wiedergegeben hatten. Nach diesen verschiedenen Versionen bietet sich eine quellengetreue Aufarbeitung und sachgerechte Darstellung jenes Kirchturmbrandes und seiner nachfolgenden Instandsetzung geradezu an.

 

Löschende Erkrather Bürger und ihre Entschädigungen

Nachdem die Erkrather Dorfbewohner durch den Blitzeinschlag auf den mit zeitlicher Verzögerung einsetzenden Brand in der Kirchturmspitze aufmerksam geworden waren, setzten sofort Lösch- und Sicherungsarbeiten ein. Vorteilhaft für die Löschenden war wohl, daß die Flammen nur langsam Nahrung fanden. Eine Feuerwehr gab es noch nicht. Als Brandbekämpfer traten vor allem die Bewohner der umliegenden Häuser in Aktion, aber auch einige durch Berufsausübung und -erfahrung besonders qualifizierte Handwerker. Namhaft gemacht werden, teilweise nur mit dem Familiennamen, 14 aktive Bürger. Allen bewilligte der Gemeinderat am 30. Juli 1855 einen individuellen Anteil an der Versicherungsprämie von 30 Talern, die die Rheinische-Provinzial-Feuer-Societät zur Vergütung ihrer beim „stattgefundenen Thurmbrand verursachten Beschädigungen an Kleidungsstücken, Instrumenten etc. betreffend“ gezahlt hatte. Den geringsten Teil erhielten Peter Müller, Sorgnith und Kirschbaum mit je 14, 18 und 25 Silbergroschen. Caspar Schäfer und Kern bekamen 1 Taler, Krautstein 1 Taler 3 Silbergroschen und Effertz 2 Taler Entschädigung. Je 3 Taler erhielten Theodor Brabänder, Ludwig Maaß, Peter Piehl, Wilhelm Rathelbeck, Johann Rauen, Bär und Vollmer. 4) Die unterschiedliche Höhe der Entschädigung läßt sicherlich auch einen Rückschluss darauf zu, wer am aktivsten bei der Brandbekämpfung und am nächsten am Brandherd war.


Schon drei Wochen vorher, am 6. Juli, hatte der Gemeinderat entschieden, eine Rechnung des Seilers Lichtenwaller über 1 Taler sowie eine noch nicht spezifizierte Rechnung des Krautstein zur Reparatur seiner beschädigten Handspritze aus dem Gemeindeetat zu bezahlen. Auch wenn die Quellen nichts darüber aussagen, dürfte es sich bei Ausgleichszahlungen für beschädigte Gerätschaften neben der Krautstein’schen Handspritze um Schläuche, Löscheimer, Leitern und Seile, Sägen, Äxte und dergleichen gehandelt haben. Aus den Gemeinderatsprotokollen geht auch hervor, dass der Gastwirt Kruchen die helfenden Bürger und Nachbarn mit Getränken versorgte und seine Rechnung über 5 Taler 10 Silbergroschen 8 Pfennige ebenfalls aus der Kommunalkasse beglichen wurde (Taler = preuß. Währung bis 1872, 1 Taler = 30 Silbergroschen, 1 Silbergroschen = 12 Pfennige; Anm.d.Verf.). 5)


Dachdecker Lutz

Unerwähnt blieb in den bisher zitierten Ratsprotokollen und dem angeführten Zeitungsbericht der Einsatz des Dachdeckers Lutz. Weshalb das „Bürgermeistereiblatt“ erst vier Wochen nach dem Ereignis das tatkräftige und beherzte Handeln, aber auch seine Enttäuschung über die erhaltene Entschädigung herausstellt, ist heute nicht mehr nachvollziehbar. In dem Blatt wird sein tollkühner Wagemut eindrucksvoll beschrieben: „Erkrath, den 16. Juli 1855. Die vaterländische Feuerversicherung hat 500 Thlr. zur Wiederherstellung des Thurmes und die Feuerversicherungs-Gesellschaft Colonia hat 39 Thlr. für die Beschädigung am Schiffe der Kirche zu Erkrath gezahlt. Mit dieser Entschädigung ist man allgemein zufrieden, nur will es nicht recht gefallen, daß man die Männer, die so schnelle und umsichtige Hülfe geleistet haben, nicht besser honoriert hat. Der Dachdeckermeister Lutz von hier, ist in den Thurm die morsche Leiter hinaufgestiegen, hat lange gelöscht, bis der immer stärker werdende Bleiregen, der ihm viel Brandwunden verursacht hat, ihn nöthigte, den Thurm und somit die Kirche und den bedeutendsten Theil des Dorfes dem wüthenden Elemente zu überlassen oder zu einer außerordentlichen Hülfe seine Zuflucht zu nehmen. Zu letzterer gleich kühn entschlossen, hat er ein Brett quer durch die Thurmspitze gesteckt, stellte sich auf die nach Außen hervorragende Seite desselben um eine freie Stellung zu gewinnen und nach stundenlanger Anstrengung gelang es ihm dem Elemente Einhalt zu thun. Er hat dafür acht Thaler erhalten. Mehrere andere, die zwar nicht die gleiche Hülfe geleistet haben, die aber Wunden davon getragen, denen ihre besten Kleider (der Brand fand an einem Sonntage statt) verdorben sind, sind mit zwei Thlrn. bedacht worden“.


Der Dachdecker muss sich, auf eine angemessene Entlohnung bedacht, noch einmal an die Gemeinde gewandt haben. Das Protokollbuch vermerkt unter dem 29.August 1855: „In Betreff der Anträge des Dachdeckers Diedr. Lutz und des Maurers Caspar Schäfer beschloß Gemeinderath, die in der Sitzung vom 30. Juli noch reservierten 2 Thaler von der Prov.-Versicherung bewilligten Prämie dem Ersten zuzuerkennen, den C. Schäfer jedoch mit seinem Antrag abzuweisen“.

 

Schneller Wiederaufbau

Über Reparatur und Wiederaufbau des Turmhelms wurde bereits knapp drei Wochen nach dem Brand in der Gemeinderatssitzung am 6. Juli 1855 entschieden: „Den Neubau des abgebrannten Kirchthurmes betreffend beschloß Gemeinderath, durch den Baumeister Poßberg einen Plan und Kostenanschlag anfertigen zu lassen, um alsdann wieder zusammen zu treten und über die Bedingungen des Vertrages zu beraten. Es wurde nachträglich noch erklärt, daß es wünschenswert sei, wenn ein Blitzableiter angelegt, auch die Leitern im Thurm repariert würden, zu welchem Zweck diese Gegenstände im Kostenanschlag mit aufgenommen werden sollten“.

In seinem „Kostenanschlag über die Wiedererbauung der Turmspitze und Reparatur an dem Turmdach der kath. Kirche zu Erkrath“ legte Baumeister Possberg am 28. Juli folgende Berechnung vor:

  Taler Silbergr. Pf.
Material zur Zimmerarbeit 117 4 5
Zimmerarbeiten 156 18 9
Dachdecker Material 80 1 -
Dachdecker Arbeiten 215 3 -
Für Plan, Kostenberechnung 20 - -
GESAMT 588 27 2

 

Zwei Tage später verpflichtete der Gemeindevorstand die Bauunternehmer Franz Possberg und Peter Wilhelm Rathelbeck vertraglich:

  1. Zum Wiederaufbau der beschädigten Turmspitze bis zum 31. Oktober 1855.
  2. Beide erklären, daß sie solidarisch für die Herstellung derselben einstehen, sich die Unternehmersumme von 540 Talern teilen und auf alle Nachforderungen verzichten. Die Anfertigung des Plans und Kostenanschlages wird nicht vergütet.
  3. Sie erkennen an, daß die Gemeinde eine Bauabnahme durch einen qualifizierten Baubeamten auf Kosten der Unternehmer vornehmen läßt und die Auszahlung der Bausumme erst danach erfolgt. Eine Abschlagszahlung wird vereinbart. 6)

Neuer Turmhelm nach drei Monaten

Für den Wiederaufbau der abgebrannten Kirchturmspitze in Höhe von etwa 1,50 bis 2 Meter hatten die Erkrather Bauunternehmer drei Monate Zeit. Wenn auch das wirkliche Ausmaß des Brandschadens unklar bleibt, so wird doch deutlich, daß der Kirchturm nur im obersten Teil beschädigt und sicher in alter Form und Höhe wiederaufgebaut worden ist. Unmissverständlich wird die Zivilgemeinde als Bauherr und Kostenträger benannt und nicht etwa die katholische Pfarrgemeinde, wie im Zeitungsartikel von 1929 behauptet wird. Dies hätte auch nicht dem allgemeinen Rechtsbrauch entsprochen, wonach seit altersher die Zivilgemeinde für die Unterhaltung des Kirchturms zu sorgen hatte. 7)  

Die Baumeister Possberg und Rathelbeck haben den Wiederaufbau der Kirchturmspitze termingerecht geschafft. Am 6. November 1855 benannte der Gemeinderat den Düsseldorfer Kreisbaumeister Custodis als Baurevisor, der seinen Besuch für den 27. Dezember ankündigte. Er bestätigte den Handwerkern allgemein eine gute Arbeit. Kleinere Mängel wurden sofort behoben. Im Abschlußprotokoll verpflichtete der Gemeinderat die Bauunternehmer am 20. Januar 1856 zu einer zehnjährigen Gewährleistung, minderte die vereinbarte Bausumme wegen nicht geliefertem Material um 30 Taler und stellte die Zahlung der Restsumme aus den von der Versicherung gezahlten Brandentschädigungsgeldern in Aussicht, wenn die Baumeister vorher die Reisekosten des Kreisbaumeisters Custodis beglichen hätten. Ein Restbetrag der Versicherungssumme  von 24 Talern wurde im Gemeindeetat für zukünftige Turmunterhaltung verbucht.


Dass die Wiederherstellung der brandbeschädigten Turmspitze durch Versicherungsgelder gedeckt war und nicht den Gemeinde- oder Kirchenetat belastete, ist eindeutig. Die von den „Düsseldorfer Nachrichten“ zitierten Finanznöte, die angeblich die Pfarrgemeinde veranlassten, die Turmspitze kleiner als ursprünglich wieder aufzubauen, hat es nie gegeben. 


Kaufkraftvergleiche

Was die Bau- und Schadenssumme von 510 Talern betrifft, so fällt es aus heutiger Sicht schwer, dazu ein vergleichbares Werteverhältnis zu finden. Nachfolgend seien einige Aufschluss gebende, interessante Beispiele angeführt:


In (Wuppertal-) Elberfeld rechnete man 1849 für eine fünfköpfige Familie mit einer Jahreshausmiete von 35 Talern. Die jährlichen Lebenshaltungskosten wurden mit rund 159 Talern berechnet. Ein Herrenhemd kostete 1 Taler, ein Paar Damenschuhe 1 Taler 8 Silbergroschen. 5)


In Düsseldorf zahlte ein Schreiner 1854 für eine 3 Zimmer-Wohnung auf der Mühlenstraße in der 1.Etage,  36 Taler Jahresmiete. In der Düsseldorfer Armenordnung werden 1851 die Lebenshaltungskosten einer dreiköpfigen Familie ohne Fleisch mit 101 Taler 3 Silbergroschen 4 Pfennige im Jahr berechnet. Ein leinenes Herrenhemd wird mit 27, 5 Silbergroschen und ein Paar Herrenschuhe mit 1 Taler 16 Silbergroschen veranschlagt. 8)


1868 verdiente in Erkrath der Eisenbahnstationsvorsteher 525 Taler jährlich, ein Lokomotivfüher 475, ein Heizer 275, ein Weichensteller 235 und ein Bahnwärter 220 Taler. 9)


Heute kostet eine einfache 48 m2 große 3-Zimmer-Sozialwohnung ohne Zentralheizung in Erkrath 2.652 Euro Jahresmiete. Zieht man dabei die Düsseldorfer Schreinerwohnung von 1854 für den Versuch eines Kaufkraftvergleichs heran, ergibt sich daraus ein Verhältnis von rund 1:73, d.h. 1 Taler etwa 73 Euro. Die Schadenssumme am Erkrather Kirchturm hätte demnach ca. 37.230 Euro betragen.
Das Umrechnungsverhältnis auf die vom Wirt Kruchen aufgestellte Getränkerechnung übertragen, würde bedeuten, dass der Gegenwert heute etwa 290 Glas Bier zu 1,30 Euro entspricht. Die 15 freiwilligen Feuerbekämpfer haben nach erfolgreichem Einsatz ihren großen Durst kräftig gelöscht und lange gefeiert!

Quellen:
1) Fotokopie im Besitz des Verfassers
2) E. Spohr, Düsseldorf  Stadt und Festung, S. 439
3) Universitätsbibliothek Düsseldorf, F 24
4) Stadtarchiv Erkrath 54, Seite 277 ff
5) E. Stubenhöfer: Freiheit, Gleichheit, Republik! Wär’n wir doch die Preußen quitt!
     Ratingen in den Revolutionsjahren 1848/49, S. 24
6) Stadtarchiv Erkrath 709
7) Siehe: J.Mennicken, Der Baulastpflichtige an Kirchtürmen nach jülisch-bergischem Recht,
    in: ZBGV 83/1967, S. 53 ff   
8) Dokumentation zur Geschichte der Stadt Düsseldorf, Bd. 8,
    Die Industriealisierung 1850 – 1914, S. 68, 71
9) Stadtarchiv Erkrath 1362